Atem ist Bewegung

Atem ist Bewegung, nämlich schwingende Innenbewegung - weit werden im Einatem und schmal werden im Ausatem. Schauen Sie sich ein schlafendes Kleinkind an: Das Weit-und-Schmal der Atembewegung schwingt sanft durch den ganzen Körper!
Dieses freie Schwingen der Atembewegung haben viele Menschen im Laufe ihres Lebens verloren. Natürlich gilt: Zum Überleben reicht auch ein eingeschränkter Atem - der Körper kann so viel kompensieren - aber das Schöpfen aus der Fülle, die volle Resonanz auf eigene Impulse und auf Mitmenschen, die volle körperliche Leistungsfähigkeit sind eingeschränkt.
Oft ist es dann die Erfahrung einer Enge ( lat. „angusta“, davon stammt unser Wort „Angst“), die den Anstoß gibt, sich mit dem eigenen Atem zu beschäftigen.

drei Atemweisen

1) der unbewusste Atem, er geschieht, im Schlaf und im Wachsein, unser Leben lang, ganz fein abgestimmt auf unsere Lebensbedürfnisse, wir müssen nichts dafür tun.

2) der bewusst gesteuerte Atem; bei dieser Atemweise setzen wir den Atem für bestimmte Ziele ein: um die Wehen bei der Geburt besser zu ertragen, um beim Tennisspielen die Kraft zu erhöhen, um die Atemkommandos eines Yogalehrers zu befolgen, um...

3) den unbewussten Atem zu Bewusstsein kommen lassen, durch innere Anwesenheit, also durch inneres Lauschen auf die Innenbewegung des Weit-und-Schmal.

Um diese 3. Atemweise geht es beim „Erfahrbaren Atem“, wie ihn Ilse Middendorf entwickelt hat! Dabei gibt es keine Atemkommandos und kein richtig/falsch, wir fügen dem unbewussten Atemgeschehen nur eine (große) Kleinigkeit hinzu: Wir lassen das Atemgeschehen zu Bewusstsein kommen, wir werden wach für das Empfinden des inneren Weit-und Schmalwerdens; wir verbinden uns auf diese Weise mit unserer Lebensquelle.

Atmen als Geschehen lassen

Man spricht vom „Atemzug“ und das klingt sehr aktiv: Den Atem einziehen - und tatsächlich: das Zwerchfell zieht sich beim Einatmen zusammen - Muskelarbeit - der Raum für die Lungen vergrößert sich und wie von einem Blasebalg wird vom Zwerchfell Luft in die Lunge gezogen, aber jetzt kommt das Paradox:
das Zwerchfell zieht ganz ohne willentlichen Einsatz den Atem ein - das veranlasst das autonome Nervensystem -, wir können das Zwerchfell ziehen lassen, den Atem geschehen lassen!
In der Wahrnehmung dieses Geschehens können wir die Einheit von Körper, Seele und Geist erfahren, der Körper wird zum Leib, die Atmung zum Atem, der kleine Mensch zum Teil des Kosmos.

„Europäisches Yoga“

Ich nenne die Atemarbeit nach Ilse Middendorf gerne „europäisches Yoga“: Yoga zielt auf den Atem und die Lebensenergie im weiteren Sinne, genau wie die Atemarbeit. Allerdings ist Yoga in Asien in einer Zeit entwickelt worden, als freier Atem noch eine Selbstverständlichkeit war und die Menschen naturverbunden gelebt haben.
Für viele Mitteleuropäer ist heute eine Atemarbeit passend, die den Atem erst einmal mit einfachen Bewegungen ohne Stress aus dem Eingezwängtsein in die Freiheit lockt, eine Atemarbeit, die gegenüber der heute verbreiteten Kultur des Machens eine Kultur des Geschehenlassens fördert. Das Atemgeschehen, das dann zu Bewusstsein kommt, ist sehr individuell; der eigene, ganz persönliche Atemrhythmus ( da passt kein Sekundenzählen..)

Zum Zwerchfell (Diaphragma)

Das Zwerchfell ist der „Dirigent des Atemorchesters“ (Dore Jacobs) bzw. kann es wieder werden. Es ist eine Muskelplatte, die quer ( althochdeutsch „zwerch“), im Brustkorb liegt und über Sehnen rundherum am Brustkorb-Rand und der Wirbelsäule befestigt ist; somit kann man vordere, seitliche und hintere Abschnitte des Zwerchfells unterscheiden.
Gut tonisiert, trägt es die Stimme und stabilisiert den Mittelkörper für die Tätigkeit der Arme und Beine. Es kann Ober- und Unterkörper miteinander verbinden, aber - wenn über- oder unterspannt - auch schmerzlich voneinander trennen.
Alle unsere Gefühlsäußerungen wie Lachen, Weinen, Seufzen, Schluchzen, Juchzen...sind Bewegungen des Zwerchfells. Gefühle zurückhalten geht über Atem = Zwerchfell anhalten. Wird das chronisch, so sind Zwerchfellabschnitte dauerhaft verspannt. Auch hier kann Atemarbeit ansetzen.